Wie „Just-Chatting“-Streams so beliebt wurden

Die Streamingplattform Twitch gilt als Zuhause für professionelle und Hobby-Gamerinnen und Gamer. Täglich schalten Millionen Menschen ein, um den Streamerinnen und Streamern beim Zocken zuzuschauen. Besonders beliebt sind dabei Games wie der Online-Klassiker „League of Legends“, aber auch neue Singleplayer-Spiele wie „Elden Ring“. Für jedes Videospiel gibt es eine Kategorie, auf der alle Streams angezeigt werden, in denen das Game gezeigt wird.

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In der Liste der Streaming-Kategorien ist aber vor allem eine Rubrik auffällig: „Just Chatting“, also „nur am quatschen“. Fast jeden Tag zählen die Livestreams in dieser Kategorie im Vergleich die meisten Zuschauerinnen und Zuschauer – damit liegt „Just Chatting“ noch vor beliebten Games wie „Fortnite“ und „Minecraft“. Während bei den Gaming-Streams klar ist, was zu erwarten ist, bieten „Just-Chatting“-Streams eine Überraschung: Mal filmt sich ein Landwirt bei der Arbeit, mal erzählt eine Oma Märchengeschichten – und manchmal streamen Menschen eben nur, um mit Zuschauerinnen und und Zuschauern über bestimmte Themen zu quatschen.

„DerHauge“ und „Freiraumreh“: Lieber quatschen als zocken

Einer dieser Streamer ist Hauke Gerdes, besser bekannt unter seinem Streaming-Namen „DerHauge“. Der 34-Jährige war vor seiner Zeit als Streamer unter anderem als Redakteur bei der früheren Gamingsendung auf MTV „Game One“ und anschließend bis 2016 beim Internetfernsehsender „Rocket Beans TV“ als Sales Manager tätig. Aufgrund seines Faibles für Videospiele streamte er – zuerst nur nebenbei während seiner Zeit bei Rocket Beans TV – auf Twitch zunächst Videospiele.

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Doch das erwies sich für viele Zuschauerinnen und Zuschauer als wenig spannend – sie wollten lieber mit Gerdes über Gott und die Welt plaudern. „Mir ist schon früh aufgefallen, dass es mir mehr Spaß macht, einfach mit den Zuschauern über interessante Themen zu reden. Umgekehrt haben sich auch viele der Zuschauer mehr für die Interaktion mit mir als für die Videospiele interessiert – manche haben den Stream auch abgeschaltet, wenn ich ein Spiel angemacht habe“, erinnert er sich.

Hauke Gerdes streamt live aus Tokio – und redet mit seinen Zuschauenden über viele verschiedene Themen.

Auch die Streamerin Kim-Noemi Adam startete 2015 mit Videospielen ihre Streaming-Karriere: Damals war sie eine der ersten Frauen, die das Weltenbaukasten-Videospiel Minecraft gestreamt hat. Zwar war sie damit erfolgreich, doch ähnlich wie Gerdes verlor auch sie das Interesse an Gaming-Streams. Vier Jahre später änderte sie daher die thematische Ausrichtung ihres Kanals „Freiraumreh“.

Beruflich startete sie zu der Zeit ihre gleichnamige Marke für nachhaltige Mode – und auch in ihren Streams geht es seitdem um Nachhaltigkeits- oder auch politische Themen. Sie erreicht mit ihren Streams viele Tausende Nutzerinnen und Nutzer, aber sie messe den Erfolg ihres Streams nicht allein an der Zahl der Zuschauenden: „Für mich ist eine große Chataktivität mit vielen verschiedenen Meinungen und emotionalen Kommentaren der wichtigste Faktor für einen gelungenen Stream“, sagt die 31-Jährige.

Kim-Noemi Adam startete mit Gaming-Streaming. Heute redet sie mit ihren Followerinnen und Followern über Themen wie Nachhaltigkeit und Politik.

Kim-Noemi Adam startete mit Gaming-Streaming. Heute redet sie mit ihren Followerinnen und Followern über Themen wie Nachhaltigkeit und Politik.

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„Leute schalten den Stream hauptsächlich wegen der Person vor der Kamera ein“

Gerdes zählt inzwischen über 80.000 Followerinnen und Follower auf Twitch, Adam knapp 70.000. Doch was fasziniert Menschen überhaupt an „Just-Chatting“-Streams? Gerdes und Adam sind sich einig: Zuschauerinnen und Zuschauer haben einen großen Gefallen daran, mit ihnen über spannende und kontroverse Themen zu reden – schließlich können sie im Chat Fragen und Kommentare abschicken, auf die die Streamerin und der Streamer direkt im Chat antworten können. „Leute schalten den Stream hauptsächlich wegen der Person vor der Kamera ein – wer eine gute Ausstrahlung hat und über wichtige Trendthemen spricht, wird mit dem Stream auch mehr Erfolg haben“, sagt Adam.

Wenn zu viel Meinung dem Stream schadet

Mit einem Stream Erfolg zu haben, ist alles andere als selbstverständlich. Gerdes und Adam haben beide zu spüren bekommen, dass eine Diskussion gut moderiert werden muss, damit Nutzerinnen und Nutzer gern auf Twitch am Stream und dem Gespräch teilnehmen. „Am Anfang habe ich besonders kontroverse Themen und Diskussionsfragen gewählt – zum Beispiel, ob die private Krankenversicherung unsolidarisch ist. Der Diskurs war dabei aber manchmal unangenehm, weil man sich im Stream teilweise nur noch die Meinung um die Ohren gehauen hat“, sagt Gerdes.

Das Problem sei gewesen, dass er zu oft nur seine Recherche und Meinung zu einem Thema als Grundlage für die Diskussion nutzte. Inzwischen geht Gerdes, der vor zwei Jahren nach Japan gezogen ist und live aus Tokio streamt, anders vor. Beispielsweise diskutiert er in seinem wöchentlichen Stream „Doku Donnerstag“ mit seinen Zuschauenden über Inhalte eine Dokumentation. „Auch die persönlichen Erfahrungen meiner Community sind inzwischen oft Thema – etwa bei Fragen wie ‚Wie fühlt sich eine Scheidung an?‘“, sagt er. Das mache den Stream lebendiger und die Diskussion fundierter.

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Ähnliche Erfahrungen hat auch Adam in Diskussionen gemacht. „In meinem Stream geht es mir manchmal noch zu viel um meine Meinungen – davon möchte ich abrücken. Spannender sind meine Streams, wenn ich interessante Gäste moderiere und zusammen mit der Community und ihnen über wichtige Themen diskutiere“, sagt sie. Zu ihren Gästen in ihren Streams zählten beispielsweise Vertreterinnen und Vertreter von „Greenpeace“ oder „Fritz-Kola“, mit denen sie über Nachhaltigkeit gesprochen hat.

Neid und Hass: Die Schattenseite des Erfolgs von Influencerinnen und Influencern

Ich habe in meinem Leben noch nie eine Arbeit gemacht, die mir so viel Freude macht und für die ich mich gleichzeitig so sehr schäme.

Hauke Gerdes, Influencer und Streamer

Streaming ist nicht der einzige Beruf von Gerdes und Adam, aber beide geben an, dass sie auf Amazons Videoportal Twitch gut verdienen. „Streaming ist ein sehr privilegierter Beruf und mit einer großen Community macht man damit auch viel Geld, das ist mir bewusst“, sagt Adam. Auf Twitch verdient man etwa Geld durch Werbung, vor allem aber mit Abonnements. Nutzerinnen und Nutzer unterstützen mit einem Abo in erster Linie die Streamerin oder den Streamer, ansonsten gibt es nur wenige Vorteile wie etwa exklusive Emoticons für den Chat.

Trotz – oder auch wegen – ihres Erfolgs erfahren Gerdes und Adam für ihren Beruf im Streaming aber mitunter auch Hass. „Als Influencer erreichen mich manchmal so viele verletzende Kommentare, dass ich mich abends noch zwei bis drei Stunden hinsetzen muss, um mich daran zu erinnern, dass ich ein guter Mensch bin“, sagt Gerdes. Das betreffe vor allem Social-Media-Plattformen wie Twitter, in denen Menschen nicht das Gefühl hätten, dass sie mit anderen Menschen reden. Etwa, wenn Kommunikation nicht in Echtzeit sondern asynchron in den Kommentarspalten stattfindet. Bei Twitch sei der Umgang laut Gerdes meist respektvoller, weil Zuschauenden bewusst sei, dass sie live mit Streamerinnen und Streamern interagieren.

Auch wenn Gerdes in seiner Freizeit Menschen von seinem Beruf als Streamer erzählt, stoße das oft noch auf Unverständnis – und teils auch auf Verachtung und Missgunst. „Ich habe in meinem Leben noch nie eine Arbeit gehabt, die mir so viel Freude macht und für die ich mich gleichzeitig so sehr schäme“, sagt er. Deswegen nenne er das Streamen meist als letztes, wenn er nach seinen Tätigkeiten gefragt wird. Adam berichtet ebenfalls, dass manche Menschen die Sinnhaftigkeit ihres Berufs als Influencerin hinterfragt haben – und dabei auch herabwertende Kommentare abgegeben haben. „Ich habe eine GmbH und zwei Angestellte – darauf weise ich hin, wenn mir jemand sagt, dass Streaming kein richtiger Beruf ist“, sagt sie.

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„Freiraumreh“: Sexuelle Belästigung und Beleidigungen gegen Influencerinnen keine Seltenheit

Es ist leider völlig normal, als Influencerin Penisbilder oder anzügliche Nachrichten zu bekommen.

Kim-Noemi Adam

Wesentlich schlimmer ist aber der Umgang mit Influencerinnen und Influencern im Netz. Gerade Frauen erhalten oft sexistische Kommentare oder werden sexuell belästigt. Auch Adam hat das schon öfter erlebt. „Es ist leider völlig normal, als Influencerin Penisbilder oder anzügliche Nachrichten zu bekommen“, sagt Adam. Auf Twitch bekomme sie aber inzwischen kaum noch belästigende Nachrichten – dank Tools wie dem Followermodus, der nur Kommentare von Nutzerinnen und Nutzern zulässt, die schon mindestens zehn Minuten zuschauen. „Würde ich allerdings darauf verzichten, würden mich garantiert wieder Kommentare erreichen, in denen Leute nach Bildern von meinen Füßen oder Brüsten fragen“, betont die Streamerin.

Auch Gerdes geht aktiv gegen Hass und Beleidigungen im Twitch-Chat vor. „Meine Moderatoren helfen dabei, den Chat frei von beleidigenden Kommentaren zu halten“, sagt er. Die Moderatoren löschen unangebrachte Nachrichten und sperren teilweise auch Userinnen und User, die solche Kommentare verfasst haben. Gerdes weist aber auch darauf hin, dass vor allem Streamerinnen und Streamer die Verantwortung dafür tragen, wie gepflegt die Diskussion abläuft. „Als Person vor der Kamera bestimmt man, wie der Diskurs geführt wird. Wer andere beleidigt, darf sich also nicht wundern, wenn andere zurück beleidigen“, sagt Gerdes.

Just Chatting „ein Zuhause für ganz verschiedene Streams zu unterschiedlichen Themen“

Just Chatting ist mit Abstand die beliebteste Nicht-Gaming-Kategorie auf der 2011 gegründeten Plattform Twitch. 2020 erlebte die Kategorie nach Angaben von Twitch inmitten in der Corona-Pandemie einen sprunghaften Anstieg an Streaminginhalten von 171 Prozent im Vergleich zum Vorjahr.

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Adam und Gerdes wollen für ihre Streams in der Kategorie künftig neue Formate ausprobieren – schließlich sei Just Chatting „so etwas wie ein Zuhause für ganz verschiedene Streams zu unterschiedlichen Themen“, so Adam. „Twitch ist für viele Menschen bereits eine Art Fernseher-Ersatz. Ich würde mir also wünschen, dass ich zu meinen Themen bald auch eine größere Show moderieren kann, die wie im TV zwar offline produziert aber live ausgestrahlt wird“, sagt die Streamerin.